Nicola Würmli

Nicola Würmli


Was, Du kennst Nicola Würmli nicht? Nicola Würmli ist zehn Jahre alt, schon bald wird Nicola den elften Geburtstag feiern dürfen. Doch bis dahin vergehen noch einige Tage. Seit dem Lesen der spannenden Geschichten von Winnetou, Old Shatterhand und all den Trappern und Indianern träumt Nicola jede Nacht von Abenteuern im Wilden Westen. Nicola hilft den Schwachen und Unterdrückten.

„Aufstehen“ schallt es ins Zimmer, „Nicoa, aufstehen, es ist Zeit fürs Frühstück“. Nicola reibt sich die Augen. „Schade, das war wieder ein so schöner Traum“. Auch wenn dieser Traum schon dutzende von Malen geträumt wurde, er ist doch jede Nacht wieder etwas Besonderes. Jede Nacht? Tatsächlich kommt es immer öfter vor, dass Nicola diesen Traum nicht nur nachts sondern auch tagsüber träumt.

Der Vater hat Nicola schon so oft zurechtgewiesen „konzentrier dich mal“, „hör zu, wenn ich dir etwas sage“, wer kennt das nicht? „Nicola!“. Nun schon mit Ausrufezeichen, da macht sich Nicola besser auf die Socken, ab zwei Ausrufezeichen hat seine Mutter, die sonst viel Verständnis für ihn und seine Träumereien hat, deutliche Anzeichen schlechter Laune. Und das vor dem Frühstück. Nicola ruft ein fröhliches „Guten Morgen, bin ja schon auf!“ mit nur einem Ausrufezeichen Richtung Küche. Ein Ausrufezeichen darf schon sein, wenn man brutal aus dem Wilden Wesen in die Wirklichkeit gerissen wird.Ach könnte Nicola doch nur wirklich in dieses tolle Land reisen, den ganzen Geburtstag würde Nicola dafür geben, ein Weihnachten und zwei Ostern gleich dazu. Wobei, die Geschenke zu Weihnachten sind wirklich nicht zu verachten. Ein tolles Fahrrad, wie die Erwachsenen es haben, ein Montainbike mit zehn Gängen hat Nicola bekommen! Damit fährt es sich toll zur Schule. Und die Einkäufe fürs Mami zu erledigen ist damit ein Kinderspiel.

Nicola hat viel mehr Freude bekommen, den Schulweg und den Weg zum Dorfladen zurückzulegen.Die Schule selbst macht nicht so Freude, die ist langweilig. Und das Träumen vom Wilden Westen führt auch dazu, dass sein Lehrer Nicola sogar schon hat aufwecken müssen. „Wenn du nicht besser aufpasst, muss ich deine Eltern zu einem Gespräch einladen!“. Obwohl nur ein Ausrufezeichen, reisst sich Nicola seither zusammen. Die Strafe vom Vater wäre sicher wieder Hausarrest. Obwohl Nicola sehr gerne nach draussen geht, wäre das weniger schmerzhafter als der verständnisvolle, aber traurige Blick der Mutter.Der traurige Blick von Nicolas Mutter macht Nicola selbst traurig und mutlos. Nicola weiss nicht, dass es nicht die Enttäuschung seiner Mutter über seinen Ungehorsam ist, sondern ihre eigene unerfüllte Sehnsucht nach fernen Ländern, Freiheit und etwas Neuem.

Wobei, bei genauem Hinschauen würde man sehen, dass der Schmerz über die unerfüllte eigene Sehnsucht der Mutter verschwinden gering ist im Vergleich zum Schmerz, den die Mutter spürt, wenn ihr Kind den gleichen Schmerz durchleiden muss wie sie.Das Schicksal kann schon grausam sein. „Nicola, aufstehen“. Es war der Morgen des elften Novembers. Nicola sprang aus dem Bett. Schon lange wach, hatte Nicola nur auf diesen Moment gewartet. Das Morgenritual im Bad ging viel schneller vonstatten als sonst. Nicola fiel seiner Mutter freudig um den Hals und setzte sich an den Frühstückstisch. Es schmeckte doppelt so gut als sonst. Doch da waren sie wieder, die ewiggleichen Gedanken an den Wilden Westen. Das wäre doch ein so viel schöneres und spannenderes, reicheres Leben. Es war Zeit für die Schule.

Nicola stieg auf das Fahrrad und machte sich auf den Weg zur Schule. Lauter langweilige Fächer heute. Da, spontan bog Nicola rechts ab, ohne zu überlegen. Als es Nicola richtig bewusst wurde, dass dies nicht der Schulweg war, war es schon zu spät. Nicolas Sündenregister in der Schule war schon voll, diesmal würde es nicht mit einer Verwarnung erledigt sein, es würde Nachsitzen, Strafaufgaben geben und diese müssten von den Eltern unterschrieben werden und das würde zu Vorwürfen mit drei Ausrufezeichen und entsprechenden Strafen führen.Also wenn schon solch drastische Strafen, dann sollte doch das Vergehen entsprechend sein. Und das Ganze sowieso am Geburtstag. Nicola schaut nun genauer auf die Strasse.

Hier war Nicola noch nie durchgefahren. Nicola kannte wirklich nur die Strasse zur Schule und zum Dorfladen. Ein bisschen fühlte sich Nicola wie ein Rebell. Zwar nur auf einem Drahtesel, aber immerhin während der regulären Schulzeit.Weiter ging die Fahrt, hinein ins Unbekannte. Der Fahrtwind kühlte Nicolas Gesicht, es war sehr angenehm. Bei der Fahrt durch den Wald kam noch der Geruch vom Harz der frisch gefällten Bäume hinzu. Es war ein Jahr in dem der Winter verspätet war. So dass die Waldarbeit noch voll im Gang war. Das Ende des Waldes gab die Sicht auf das Nachbardorf frei. Noch weit entfernt, aber schon deutlich sichtbar. Nicola kannte das Dorf nur vom Hörensagen. Nicola war noch nie dort gewesen.

Im eigenen Dorf waren die Leute sehr verschlossen und lebten fast autark. Man genügt sich selbst. Ausserhalb des Dorfes war ein grosser Gutshof mit einer grossen Weide und was war das? Beim Vorbeifahren am Zaun hört er Hufe: Pferde! Nicola stoppte, liess sein Fahrrad achtlos fallen und steht mit offenem Mund an der Koppel und sieht die herrlichen Pferde an. Die Pferde galoppieren vorbei. Nicola bückt sich und betritt die Pferdeweide. Wie gebannt den Pferden hinterherstaunend erreichen die Pferde den Brunnen und bleiben stehen.

Nicola beginnt zu rennen. Ausser Atem, innerlich aufgeregt, ja aufgewühlt, aber doch mit ruhigen Bewegungen nähert sich Nicola den Pferden, streckt zögerlich, fast schon ängstlich mit gewaltigem Herzklopfen dem ersten Pferd, einem prächtigen schwarzen Hengst – es könnte Iltschi sein, das berühmte Pferd des legendären Apachenhäuptlings – seine Hand entgegen, berührt den Hals, die Nüstern. Ganz sorgfältig. Die Augen haben sich gefunden. Irgendwie ist ein Gefühl des sich Kennens bei Mensch und Tier. Wie sonst wäre es zu erklären, dass sich das edle Pferd ohne zu bocken den Kopf und sogar die Nüstern streicheln lässt?

Die Zeit scheint still zu stehen. „Hallo“. Nicola zuckt zusammen. „Oh weh, ich sollte in der Schule sein“, durchzuckt Nicola voller Schuldgefühl ein Gedanke. „Hallo“ erwidert Nicola mechanisch und dreht sich um. Nicola war so vertieft in die erste Begegnung mit einem so herrlichen Tier, dass Nicola nicht bemerkt hatte, wie ein Mann herangekommen war. Starr vor Schreck konnte Nicola dem Impuls wegzurennen, nicht nachgeben, nur starr den Fremden anstarren.

„Ich bin Hans, mir gehört dieser Hof“, stellte dieser sich freundlich vor. Nicoa stammelte nur „und diese wunderbaren Pferde?“. „Ja“, antwortete Hans. Zum freundlichen Ton mischte sich sichtlich Freude über das Kompliment. „Kennst du dich mit Pferden aus?“ Nicola hatte die Schule ganz vergessen und antwortete voller Begeisterung: „Nein, aber in meinen Träumen reite ich oft“. Über das Gesicht von Hans zog ein Lachen „Aha, ein kleiner Old Shatterhand!“.

Das Ausrufezeichen hatte plötzlich eine ganz andere Bedeutung und staunend frage Nicola: „woher weisst du das?“. „Davon träumen doch alle Kinder, wenn sie die Bücher von Karl May lesen“. Also weder Nicolas Vater noch Mutter hatten je positiv auf seine Träumereien reagiert, geschweige denn je in dieser Richtung Erfahrungen zugegeben. Nicola war so nachdenklich, dass eine Pause entstand.

Voller Wohlwollen bemerkte der Gutsherr das Glühen in Nicolas Augen. „Bist du denn schon einmal auf einem Pferd geritten?“ war eine durchaus logische Frage. „Nein“, die traurige Antwort. „Wie alt bist du und wie heisst du überhaupt?“ – „Nicola und ich bin heute elf Jahre alt“. Nun dauerte es einen Moment bis Hans sagte: „Was, elf Jahre alt und noch nie auf einem Pferd gesessen? Und heute Geburtstag? Dann geht es nicht anders: möchtest du nicht gleich jetzt auf ein Pferd steigen und reiten?“.

Nicola hatte einen dicken Kloss im Hals – reiten wie Old Shatterhand und Winnetou, jetzt und auf einem wirklichen Pferd und nicht mehr nur im Traum! Nicola brachte kein Wort heraus, doch seine leuchtenden Augen und der aufgeregte Atem waren Antwort genug. Hans nahm das Zaumzeug von der Koppel und legte es dem herrlichen schwarzen Pferd an. Er legte den herunterhängenden Riemen um die Hand von Nicola. „Du führst das Pferd jetzt zum Stall. So gewöhnt ihr euch aneinander. Beim Stall schnallen wir den Sattel auf das Pferd und gehen zurück zur Koppel. Dann steigen wir auf die Pferde und reiten.“

Wie in Trance ging Nicola mit einem Pferd an der Hand über den grossen Vorplatz beim Hof zum Stall. Dort wurde es gesattelt. Hans ging in den Stall und kam mit einem gesattelten und gezäumten Schimmel zurück. Zusammen gingen sie zur Koppel, die Pferde angebunden und die Koppel geschlossen. Hans half Nicola beim Aufsteigen. Nach ein paar Erklärungen zum Umgang mit einem Pferd stieg Hans ebenfalls auf, band die Pferde los und führte das Pferd von Nicola an der Leine.

Nicola auf dem Pferd am Reiten! Es ging ganz automatisch. War es nun ein Traum oder Wirklichkeit? „Wunderbar, und nun reitest du allein“. Die Stimme von Hans elektrisierte Nicola. „Was, ich kann doch nicht reiten“ erwiderte Nicola ganz ängstlich. „Nur Mut, ich musste dein Pferd überhaupt nicht führen, es hat sich vollständig nach dir gerichtet“. Diese Einheit zwischen Reiter und Pferd kannte Nicola aus den so geliebten Büchern. Ohne es zu hinterfragen, presste Nicola die Beine fein gegen die Seiten des Pferdes. Es spitzte die Ohren und begann schneller zu gehen.

Sofort zog Nicola verängstigt an den Zügeln. Fast augenblicklich stoppte das Pferd und Nicola konnte sich gerade noch am Sattelknauf festhalten, ohne vom Pferd zu fallen. „Sachte, gehe es langsam an und mit ruhigen Bewegungen“. Unter der Anleitung von Hans ging es immer besser. Nach einer kleinen Strecke im Galopp waren sie wieder beim Eingang der Koppel. Sie stiegen ab und mit glühenden Wangen bedankte sich Nicola, nahm sein Fahrrad und fuhr nach Hause.

Ganz aufgeregt ging er ins Haus. Es war seit Gedenken Tradition in der Familie Würmli, dass bei Kindergeburtstagen der Vater früher nach Hause kam. Um ausgiebig zu feiern. So realisierte Nicola gar nicht, dass die Schule erst in einer Stunde aus wäre. Dem Vater und der Mutter stürmisch um den Hals fallend und beide stürmisch begrüssend. Die Eltern schauten konsterniert. Aus den Vorbereitungen der Geburtstagsfeier herausgerissen und völlig überrascht, Nicola schon zu sehen. „Wo kommst du denn her?“.

„Ich war im Nachbardorf, habe Hans getroffen und bin auf einem wunderbaren schwarzen Pferd geritten“. „Was!!!?“ da waren sie, die drei Ausrufezeichen. Nicolas Hirn schaltete in den Alarmmodus. Vor lauter Freude und Aufregung hatte Nicola die Alarmglocke, die im Hinterkopf seit langer Zeit schrillte, überhört. Nun aber drang sie um so intensiver ins Bewusstsein.

Es kam wie es kommen musste. Der Vater zog Nicola den Hosenboden stramm. Doch was war das? Sein Vater haute nicht wirklich fest, oder kam es Nicola nur so vor? Jedenfalls blieb der erwartete Schmerz aus. Durch die Tränen sah Nicola in den Augen der Mutter, obwohl auch deren Augen mehr als nur feucht waren, erstaunlicherweise Freude. Und sogar ein bisschen Stolz. Als ob sie sagen würden: „Gut gemacht Nicola, du wirst ein erfüllteres Leben haben als ich“.

Gabriele da Marconte, 2014

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